Jungen klopfen kopfschüttelnd und mit verständnislosen Gesten an die Glastür. Neben ihnen Mädchen mit Büchern auf dem Arm und fragenden Blicken. „Heute ist die Bibliothek ab 10.30 Uhr geschlossen!“, ruft Marianne Merle und zeigt auf ein großes Schild im Eingangsbereich. Letzte Vorbereitungen werden getroffen: Stühle müssen geradegerückt und fleckige Fenster geputzt werden, die Leinwand muss heruntergelassen und Kaffee für Norman Wolf und die Filmcrew von „Terra X“ gekocht werden. Bald ist alles bereit.
Der junge Buchautor, Psychologe und Influencer war schon häufig an der Otto-Hahn-Schule zu Gast gewesen. „Ich habe mich bei euch immer wohlgefühlt“, hatte er gegenüber der Bibliothekslehrerin Dagmar Hofmann einige Wochen zuvor erklärt, warum er die geplante „Terra X“-Sendung zum Thema Mobbing gern an der Otto-Hahn-Schule durchführen würde.
Am 26. April um 11.30 Uhr schließlich ist es so weit: Norman Wolf betritt zusammen mit Moderator und Fernsehjournalist Eric Meyer, außerdem mit der Regisseurin Marie Villetelle sowie zwei Kameramännern und einem Tontechniker die Bibliothek. Einstellungen werden geprüft, letzte Absprachen werden getroffen, und bald darauf interviewt Eric Meyer im hinteren Teil der Bibliothek Norman Wolf zu seiner Arbeit. „Es geht mir darum, Kindern den Rücken zu stärken“, erklärt der junge Autor das Ziel seiner Arbeit. „Sie sollen erfahren, dass man sich Mobbing nicht gefallen lassen muss.“
In der Zwischenzeit versammeln sich die Schülerinnen und Schüler der Klasse 5Gb mit ihrer Klassenlehrerin Christina Bereksasi vor der Bibliothek. In den Händen halten sie Schilder mit ihren Namen: Auf diese Weise wird möglich, die Kinder später den Einverständniserklärungen der Eltern zum Dreh zuzuordnen. Ganz leise schleichen die Mädchen und Jungen an der laufenden Kamera vorbei, legen ihr Namensschild auf einen Stuhl und suchen sich einen Platz, während Norman Wolf und Eric Meyer vor einer zweiten Kamera noch ins Gespräch vertieft sind.
Als alle Kinder sitzen, eröffnet Eric Meyer die Veranstaltung, und eine aufgeräumt wirkende 5Gb erwidert den Gruß des Moderators mit dem fröhlichen Chor „Guten Morgen, lieber Eric!“ „Normalerweise sage ich immer, dass alles, was ihr äußern werdet, in diesem Raum bleibt, aber heute ist ja das Fernsehen dabei“, erklärt Norman Wolf lachend. Die Regisseurin wendet sich an die Kinder: „Wir drehen nicht live“, gibt sie zu bedenken, „ihr könnt also jederzeit >Stopp< sagen, wenn ihr nicht wollt, dass eine Äußerung von euch gefilmt wird. Das geht auch hinterher. Wenn ihr das Gefühl habt, ihr möchtet etwas, das ihr gesagt habt, nicht im Fernsehen sehen, könnt ihr das auch hinterher noch sagen. Dann können wir das jederzeit herausschneiden.“
In den 90 Minuten, die folgen, wirkt es an keiner Stelle so, als würde jemand sich unwohl fühlen. Norman Wolf illustriert die Geschichten aus seiner Schulzeit mit Fotos und anhand von Textstellen aus seinem Buch „Wenn die Pause zur Hölle wird“. Er berichtet von traumatischen Mobbing-Erfahrungen, die begannen, als er ungefähr so alt war wie seine jugendlichen Zuhörer jetzt. Diese folgen dem Vortrag konzentriert und sichtlich bewegt.
Warum ihm denn niemand geholfen habe, wollen mehrere der Fünftklässler wissen, - und reagieren fassungslos auf die Nachricht, dass Norman Wolfs Lehrkräfte die Vorfälle konsequent ignoriert haben.
„Ich wünschte, ich könnte in meine Vergangenheit zurückreisen“, sagt Norman Wolf und ergänzt nachdenklich, „Als meine Mutter zum ersten Mal mein Buch in der Hand hielt, fragte sie mich, warum ich denn nichts gesagt habe, damals. Sie hätte doch Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um mir zu helfen.“
In einem kleinen Experiment bittet der Autor seine Zuhörerinnen und Zuhörer die Augen zu schließen und sich zu melden, wenn sie bereits einmal in ihrem Leben Mobbing erfahren haben. Elf Hände sind in der Luft: Elf von 25 Kindern, die, wie sie später erzählen, in ihrer Grundschule Erfahrungen mit Mobbing gemacht haben.
Norman Wolf ermahnt die Kinder, den Teufelskreis aus Mobbing, Angst bzw. Ignoranz und Duldung zu durchbrechen. „Holt euch Hilfe, wenn Mobbing euch widerfährt“, fordert er seine Zuhörerinnen und Zuhörer auf. „Sprecht mit Freunden und Freundinnen, mit Lehrkräften, mit euren Eltern, geht in die AnsprechBar.“
Das Gespräch zwischen Norman Wolf und der Klasse 5Gb hätte vermutlich noch lange weitergeführt werden können, aber Regisseurin Marie erinnert an die fortgeschrittene Zeit, und Eric Meyer übernimmt erneut die Moderation.
Wie es ihnen gehe, fragt er die Schülerinnen und Schüler. „Gut“, sagen einige, und andere äußern, was sie mitnehmen werden aus der Veranstaltung. „Ich habe gelernt, dass man eingreifen muss, wenn man Mobbing beobachtet“, erklärt Schüler Ates Dogan und drückt damit aus, was sicher auch andere empfinden.
„Ihr seid so tolle, emphatische Menschen,“ sagt dann auch Klassenlehrerin Christina Bereksasi, „und ich wünsche euch von ganzem Herzen, dass euch so etwas nie passieren wird!“
Tatsächlich möchte man glauben, dass die Schülerinnen und Schüler der 5Gb ihre weitere Schulzeit ohne Mobbing durchlaufen werden. Und sollte es doch einmal zu unerwünschten Verhaltensweisen kommen, so werden sie sich vermutlich an Norman Wolfs Botschaft erinnern, dass man sprechen und sich dem Mobbing entgegenstellen muss.
Es ist Mittagspause an der Otto-Hahn-Schule. Die Bibliothek öffnet wieder ihre Türen. Schülerinnen und Schüler geben Bücher ab, bitten um eine Wärmflasche oder ein Coolpack, und die Klasse 5Gb strömt hinaus auf einen sonnigen Schulhof. Schulleiterin Susan Stein sowie die beiden Bibliotheksleiterinnen Marianne Merle und Dagmar Hofmann verabschieden sich von Norman Wolf und dem ZDF-Team und sind gespannt auf die Ausstrahlung der Terra X-Sendung, die für Anfang Oktober geplant ist.